Und plötzlich ist alles anders …
Gedanken anlässlich des Anschlages in Aschaffenburg am 22. Januar 2025
Am 22. Januar fand die Messerattacke in Aschaffenburg statt, bei der zwei Menschen getötet und weitere verletzt wurden. Anstatt den Tathergang heute erneut aufzurollen, möchten wir an dieser Stelle der Opfer gedenken. Unser Mitgefühl gilt ihren Familien und allen Menschen, die durch diese entsetzliche Tat Leid erfahren haben. Pastor Peter Siemens aus Eichenbühl hat uns seine Gedanken anlässlich des Anschlags als tröstlichen Impuls zur Verfügung gestellt.
Und plötzlich ist alles anders
Verständliches Entsetzen bemächtigt sich tausender Menschen. Unser Land wurde wieder einmal getroffen. Und wieder einmal sucht man nach Erklärungen, einer nachvollziehbaren Antwort. All das macht das Leben „danach“ nicht einfacher. Alles in uns wehrt sich dagegen, solche Verbrechen in unser Denken, in unsere Art, miteinander zu leben, als gegeben hinzunehmen. Niemand mag sich eine Welt vorstellen, in der Kinder aus Hass auf das eigene misslungene Leben umgebracht werden. Wie lebt man „danach“? Jenseits politischer Reden, jenseits der verständlichen Wut? Jenseits der Rufe: „Die müssen alle raus hier!“?
Ich bin Pastor, Seelsorger, und habe viel mit Menschen zu tun, die schwere Schicksalsschläge zu verkraften haben. Und ich bin Ehemann, Vater von drei erwachsenen Kindern und Opa von neun Enkelkindern, stehe sozusagen mitten im Leben. Als der Weihnachtsmarkt in Magdeburg angegriffen wurde, konnten wir unsere Kinder, die dort wohnen und den Markt besuchen wollten, stundenlang nicht erreichen.
Sie meldeten sich dann per WhatsApp – da wussten wir, dass sie in Sicherheit sind. Das sind Momente, in denen man das Gefühl hat, der Boden entschwindet unter den eigenen Füßen ...
Fragen, die sich mir aufdrängen:
Wie lebt man „danach“, wenn sich die Erde tatsächlich unter einem auftut und man in das dunkle, schwarze Loch von Entsetzen, Schmerz, Nicht-wahr-haben-wollen abstürzt ..? Was hält dann noch? Was trägt?
Was muss oder kann ich tun, damit es meinem Nächsten besser geht?
Wo liegt meine Verantwortung für Gutes und Liebe untereinander?
Wo liegt die Quelle des Bösen auch in mir? Nein, ich habe niemanden umgebracht, aber mir ist das Gefühl nicht unbekannt: „Wenn ich könnte, ich würde …!“
Was hilft mir, damit aus meiner Seele keine Mördergrube wird?
Was mir Mut gibt, ist der Mann, der die Kinder schützte und dabei selbst getötet wurde. Jesus sagte einmal: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde gibt!“ Hier hat einer sein Leben für die Kleinsten, die Schwächsten, die Schutzbedürftigsten gegeben. Welch ein Opfer!? Es gibt sie noch, die Menschen, die sich, wenn es darauf ankommt, zwischen Messer und Opfer stellen. Diesem Helden, seiner Familie und allen, die Platz in seinem Herzen hatten, gehört unser aller Dank, unsere Wertschätzung und Erinnerung.
Ebenso gelten unsere Gedanken und Gebete denen, die verletzt wurden. Denen, die den Überfall miterlebt und nun eine neue Zeitrechnung für sich persönlich begonnen haben. Allen diesen lieben Menschen wünschen wir baldige Genesung und Heilung – an Leib und Seele.
Was mir hilft ist die Einsicht: der Hass, den ich jetzt in meiner Seele wohnen lasse, wird mich auffressen. Wie ein Wurm. Wie Krebs wird sich der Hass in mir ausbreiten. Er wird mein Denken Tag und Nacht besetzen. Ich werde Hass träumen. Ich werde Racheszenarien durchspielen und perfektionieren. Er wird mir den Schlaf rauben und den Appetit nehmen. Er wird meine Liebesfähigkeit auslöschen. Er wird alles Schöne in mir vergiften. Er wird meine Freude in Trauer verwandeln. Er wird mein Lachen in Bitterkeit verzerren. Er wird mich zum ewigen Patienten beim Therapeuten machen. Er wird mich zu einem machen, der auf Hass mit Hass antwortet. Er macht mich dem Mörder aus Aschaffenburg gleich. Am Ende bin auch ich einer, der tausendfach umgebracht hat …
Und weil ich mir selbst dafür zu wertvoll bin, ist mir ein Prinzip schon oft zur Hilfe geworden: Es ist die heilende Wirkung von Vergebung. Vergebung um meiner selbst willen. Ich meine damit: Da hat jemand ein unermessliches Leid in Familien gebracht. Der Schmerz darüber trägt in sich das ganze Potenzial, über das Geschehen hinaus auch noch das Leben der betroffenen Familien zu zerstören. Die Täter von Magdeburg und Aschaffenburg haben mit ihren unmenschlichen Taten auf uns alle sehr schwer zu ertragende Lasten aufgelegt. Sie haben Menschen an den Rand der Verzweiflung gebracht. Wie ein dunkler, kalter Schatten hat sich ein kollektives Entsetzen über uns alle gelegt.
Wenn ich vergebe, so tue ich es, weil mir eben diese Schwere der Tat und ihre zerstörerische Wirkung bewusst ist.
Ich vergebe, weil ich nicht das nächste Opfer werden möchte. Ich möchte nicht an der Schuld anderer Menschen bis an mein Ende festhalten, gebunden sein.
Indem ich vergebe, gebe ich die Verantwortung für das Geschehene an den Täter zurück – der unbedingt für seine Taten zur Verantwortung herangezogen werden muss! Dies schließt auch die konsequente Umsetzung des Gastgeberrechtes ein: wer unsere Gastfreundschaft missbraucht, hat das Privileg auf das Bleiben in unserem Land verwirkt!
Und was mich auch noch hält: mein Vertrauen in Gott. Vielen von uns sind die Worte vertraut: „Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn.“ Ich bin seit vielen Jahren in die tragende Kraft dieser Worte eingebettet. Sie sind mir Quelle der Kraft, wenn Sicherheiten erschüttert werden. Wenn mir der Boden unter den Füßen wegzubrechen droht, weiß ich mich auch in der ganz dunklen Stunde meines Daseins bei IHM gut aufgehoben.
So kann ich durch meine Tränen hindurch einstimmen:
Wenn ich auch gar nichts fühle
von Deiner Macht,
Du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht.
So nimm denn meine Hände
und führe mich
Bis an mein selig Ende und ewiglich
Dieses Gottvertrauen wünsche ich uns…
In Wertschätzung, Peter Siemens / Pastor
Autor:meine-news.de Redaktion aus Miltenberg |
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