Am Rande einer Fachwerkstadt zwischen Odenwald und Spessart lebte das Kind Willibald mit seinen zwei jüngeren Brüdern Otto und Franz im ersten Stock einer großen Sandsteinvilla zu Miete. Die Eltern hatten studiert, die Mutter Sophie Malerei an der Kunstakademie, der Vater Franz Alt- und Neuphilologie in Prag. Sie durften 1947 ausreisen, mit ihren Möbeln. Nach Unterfanken. In die Kleinstadt. Fachwerkhäuser noch und noch. Wir lebten hinter rotem Sandstein.
Im Wohnzimmer des neuen Heims standen ringsum Shannon-Schränke: Hinter ihren Glasklappen warteten Bücher. Es galt die Maxime: "Man begegne jeglichem Buche hier mit Ehrfurcht, Sorgfalt, Andacht." Aber Willibald durfte ohne weiteres die Klappen öffnen; da er noch nicht lesen konnte, suchte und betrachtete er die Bilder in den Büchern. Manchmal stundenlang. Ab und zu zeichnete er auch ein Strichmännchen mit lächelndem Gesicht auf textarme Seiten. Staunenswert war ihm Meyers Konversationslexikon, mattgraues Seidenpapier über farbigen Abbildungen, knisternd, wenn man das darunterliegenden Bild aufdeckte. 20 Bände mit Goldschnitt, die Supplementbände auch.
Außerdem mochten Vater und Mutter das Kino und konnten begeistert von Filmen erzählen, die vom katholischen Filmdienst als "sehenswert" eingestuft wurden, Den "Pastor Angelicus" ("zu empfehlen") fanden sie peinlich, manchmal erzählten sie auch von den "bedenklichen" oder "abzulehnenden" Filmen. Der Vater nannte dann sinnend den Namen "Friedrich Muckermann", das war der maßgebliche Filmpublizist des katholischen Filmdienstes. Deutliche Worte fand er zur Positionierung des katholischen Christen und der anderen:
„Im Raume des einen erhebt sich, alles überragend, die Kirche,
im Raum des anderen der Kinopalast.
Unsere Helden sind die Heiligen,
dort triumphiert der Hochstapler.
Wir verherrlichen die Jungfräulichkeit und die christliche Familie,
dort aber herrscht die Halbwelt und die moralische Ungebundenheit.“
Der Vater schmunzelte. Rings um die Villa kreiste ein verwilderter Park.
Der Schüler Willibald schloss sich einer katholischen Jugendgruppe an, der bewundernswerte, kluge Priester und Studienrat Albert Schlereth organisierte unaufdringlich effektiv die Jugendarbeit: Man wanderte und zeltete rings um die Stadt und auch weiter weg in den wilden Wäldern des Mainvierecks, im Odenwald und im Spessart. In Frankreich und Italien arbeiteten wir eine Woche in der Kriegsgräberfürsorge, zwei Wochen genossen wir dann das Land.
Der Sechzehnjährige "schaffte" in den Ferien, erstand eine gebrauchte Leica und fertigte ein frühes Selfie in schimmerndem Halbdunkel an (s. Foto im Avatar), was aber die alterstypischen Selbstzweifel über sein Aussehen nicht zum Verstummen brachte.
Der einundzwanzigjährige Willibald scheute Exaltiertes, fand Bodenhaftung im Linguistikstudium und lernte so im Gespräch mit Freunden das Vergnügen kennen, sich achtsam in Texturen umzusehen und sie zu genießen - ohne dabei auf Analyse zu verzichten.
Er hatte mittelmäßige Lehrer, sie erzählten. Gute, sie erklärten und bewiesen. Bei den sehr guten sah er, wie man schlüssig argumentieren kann. Dann gab es auch großartige Lehrer. Sie begeistern und setzen immer noch Kräfte frei. Es mutet Willibald heute manchmal fast allzu eigen oder gar esoterisch an, wenn er - in Büchern, in Filmen, in Serien, in Bildern - kleine Energien von damals zu spüren glaubt, "ästhetische Kräftefelder" sagt Simone Hoch.
Ab und zu – so meint er – verfügen sich die Eltern aus dem Jenseits in sein Arbeitszimmer. Flügelfächelnd lächeln sie skeptisch, wenn er sich gerade über eigene oder fremde Texte beugt. Auf dem Schreibtisch zwei Lampen, eine mit schwerem Messingfuß.