Notunterkünfte gesucht
Scherf: Kommunen sind überfordert bei steter Neuaufnahme Geflüchteter
„Wir sind am Ende der Leistungsfähigkeit, es geht nicht mehr!“: Landrat Jens Marco Scherf findet drastische Worte angesichts der erneuten Mammutaufgabe für den Landkreis Miltenberg, weitere Geflüchtete aus Kriegsgebieten aufnehmen zu müssen. In einem Schreiben an Bundeskanzler Olaf Scholz und die Grünen-Spitze im Bundestag klagt der Landrat: „Wir haben die Ressourcen nicht mehr, weder Wohnraum für Unterbringung noch bei der Versorgung, Betreuung und Integration der Menschen. So sind die Kommunen dauerhaft überfordert“, warnt Scherf vor den Folgen der anwachsenden strukturellen Überforderung von Gemeinden und Landkreis. Es müsse dringend etwas passieren, fordert der Landrat, der mit dieser Auffassung nicht alleine ist: Sowohl der Bayerische Landkreistag als auch der Kreisverband des Bayerischen Gemeindetags stehen Seite an Seite mit Scherf.
Dank der Unterstützung durch die Stadt Klingenberg und der aktiven Mithilfe des Roten Kreuzes gelang es dem Landkreis, in der leerstehenden alten Schule in Röllfeld eine Notunterkunft einzurichten, in der Ende des Monats die ersten 30 Geflüchteten aus Kriegsgebieten einziehen sollen. Platz wäre für 60 Menschen, aber zunächst muss sich alles erst einmal einspielen, bevor die nächsten Geflüchteten aus dem Ankerzentrum in Schweinfurt kommen. Die Ankerzentren sind voll, im Landkreis fehlen weitere dezentrale Unterkünfte, weshalb nun eine möglichst kurzfristige Notunterbringung erfolgen muss.
Der Landrat favorisiert bei der Aufnahme solange wie möglich Lösungen wie in Röllfeld, das Sozialamt würde im Notfall aber auch leerstehende Gewerbeimmobilien anmieten.
Erst als allerletztes Mittel will der Landkreis wieder Schulturnhallen oder Stadthallen belegen – so wie im letzten Frühjahr. „In den zurückliegenden Pandemiewintern war der Vereins- und Schulhallensport stark eingeschränkt, ganz besonders auch zu Lasten der Kinder und Jugendlichen! Deshalb ist die Nutzung von Sporthallen die absolute ultima ratio, die wir unbedingt vermeiden wollen“, erklärt Scherf das Dilemma.
Tatsächlich ist die Situation jetzt, auch nach der erfolgreichen Aufnahme und Versorgung von über 1.500 Menschen aus der Ukraine, noch besorgniserregender, so Scherf: „Die Lage ist jetzt schlimmer!“ Man habe mehr Geflüchtete aufgenommen als damals, schrieb er nach Berlin, denn ohne Berücksichtigung der aus der Ukraine Geflüchteten ist im Jahr 2022 die Anzahl der Asylerstanträge in Deutschland um 50% gestiegen: „Wir haben auch keine Personalkapazitäten mehr - weder für die Verwaltung noch die Betreuung der Geflüchteten, Schulen und Kindertagesstätten sind übervoll und hoch belastet, es gibt
kaum noch Plätze zur Unterbringung mehr und unser Personal ist vollkommen ausgelaugt.“
Im Idealfall sollen Geflüchtete nach der Notaufnahme möglichst schnell in dezentrale Unterkünfte im Landkreisgebiet umziehen, aber da gibt es das nächste Problem: Scherf zufolge ist der Wohnungsmarkt so gut wie leergefegt. Das Sozialamt ist deshalb laut Simone Greulich erneut auf der Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten: Wer Wohnraum anzubieten hat – am besten wären leerstehende Häuser – kann sich per E-Mail (unterkunft@lra-mil.de) im Sozialamt melden. Darüber hinaus werden weitere
Unterbringungsmöglichkeiten für all jene gesucht, die mit Bleiberecht ausgestattet wurden. Interessierte Eigentümer*innen können sich in diesem Fall an die soziale Wohnungsbörse FairMieten wenden, die Vermieter*innen und Menschen zusammenbringt, die sozialen Wohnraum suchen. Das Gemeinschaftsprojekt des Landkreises und des Kreiscaritasverbands will allen sozial Schwachen unabhängig von deren Alter, Herkunft und Konfession helfen. Diese Wohnungsbörse ist per E-Mail unter fairmieten@caritas-mil.de erreichbar.
Aber selbst wenn die Unterbringung gelingen sollte, bereitet dem Landrat ein weiteres Problem Bauchschmerzen: „Die Integration der Geflüchteten wird zum Zufallsprodukt.“ Man werde Menschen vielleicht unterbringen können, „aber wir werden uns nicht in diesem Maße um sie kümmern können.“ Integration ist ein langwieriger Prozess, für den wir derzeit weder die notwendige Zeit und noch die entsprechenden Ressourcen haben, zeichnet Scherf ein von Sorge gezeichnetes Bild.
Deshalb braucht es dem Landrat zufolge Unterstützung von der Bundesregierung, auch wenn diese gerade genügend Baustellen habe. In einem Brief an den Bundeskanzler, den auch der Kreisvorsitzende des Gemeindetags, Jürgen Reinhard, unterzeichnet hat, erklärt Scherf die oben dargestellte Situation und wird deutlich: „Wir bitten Sie dringend um eine spürbar stärkere Steuerung und auch Begrenzung der durch die Kommunen aufzunehmenden flüchtenden Menschen.“ Berlin müsse die Überforderung der
Kommunen anerkennen und wissen, dass die Aufnahme Geflüchteter weitere Herausforderungen mit sich bringt in Sachen Wohnraum, überlastete Kindertagesstätten und Schulen, finanzieller und personeller Ressourcen über haupt- und ehrenamtliche Beratungsangebote bis hin zu den begleitenden Maßnahmen zu geplanter und gesteuerter Integration.
Um das Problem zu lösen, braucht es dem Landrat zufolge die klare Trennung einer kriteriengesteuerten notwendigen Arbeitsmigration und einer nachhaltigen Flüchtlingshilfe. Dazu sei eine EU-weite, koordinierte Politik notwendig, die Bereiche der Konfliktbewältigung, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der intensiven Unterstützung von Hilfen für Flüchtende in den Nachbarländern sowie gezielte und geplante Aufnahme in begrenztem Umfang in Länder der EU vorsieht. Aufgabe des Bundes müsse eine Neugestaltung der Migration und der Flüchtlingspolitik sein. Hierfür sei es notwendig, einen fachlichen Dialog mit den kommunalen Spitzenverbänden zu beginnen.
Diese Forderungen des Landrats stimmen mit der sogenannten Brüsseler Erklärung der Bayerischen Landrätinnen und Landräte zur Asyl- und Migrationspolitik überein. Aktuell hat sich der Bayerische Landkreistag auch an das Präsidium des Deutschen Landkreistags mit der Bitte bei der Unterstützung eines gemeinsamen Gesprächstermins bei Bundeskanzler Olaf Scholz gewendet.
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