Buchempfehlung: Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost
Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun
Im österreichischen Kremayr-Scheriau Verlag ist mit "Wir verlassenen Kinder" von Lucia Leidenfrost ein höchstinteressantes Buch erscheinen. Beschrieben als "eine unheimliche und vielstimmige Parabel" wusste ich nicht so recht, welche Art von Buch mich erwartet. Das Resultat ist ein literarisch anspruchsvolles, kurzes Buch, das ohne zeitlichen oder gesellschaftlichen Kontext auskommt.
Das Buch bietet viel Spielraum für Interpretationen und kommt mit wenigen Protagonisten aus. Noch weniger Charaktere haben auch tatsächlich einen Namen, eigentlich nur Mila und Juri sowie die Randfiguren Tante Tatiana und der Bankier Novak. Alle anderen werden schlicht entsprechend ihrer Rollen bezeichnet à la "die Schwestern, der Lehrer, die Alten, die Wirtin, der Vater". Dadurch wird eine starke Distanz aufgebaut, die die Kühle, die im Dorf entsteht, stark wiederspiegelt. Denn das Dorf wird nach und nach von allen Erwachsenen verlassen. Mit jedem Erwachsenen, der seine Heimat und seine Kinder für den Krieg verlassen muss (will), stirbt ein Stück Menschlichkeit und unweigerlich verrohen die Kinder und Jugendlichen, die bald auf sich gestellt sind.
Die Abwesenheit von Bildung, Regeln und Erziehung war anfangs noch spannend und lustig, aber das fehlende Wertesystem schlägt sich schnell in fatalen Konsequenzen nieder.
Trotz herber Rückschläge glaubt eines der Kinder fest an das Gute und gibt die Hoffnung an das Dorf nicht auf - Mila, die älteste Tochter des Bürgermeisters. Sie ist sympathisch und fest entschlossen sich nicht in das fatale WIR der Kinder einzugliedern. Schon die Kapitel sind weitestgehend in WIR und MILA unterschieden und zeigen so verschiedene, oft verzweifelte Perspektiven auf das Leben im Dorf.
Das Buch ist eine Berg- und Talfahrt. Auf Glanzmomente und gute Ideen von Mila folgen vernichtende und selbstzerstörerische Kamikaze-Einfälle der Kinder.
Was mir persönlich fehlte, war der Kontext. Ein zeitlicher Rahmen ist überhaupt nicht gegeben; das finde ich aber gelungen, denn das Dorf könnte überall und zu jeder Zeit existieren. Allerdings erscheinen mir die Stumpfheit der Eltern und der unterschwellig bewusste Krieg zu abstrakt. Für mich ist das Konzept gelungen, das Ende aber irgendwie nichtssagend.
Insgesamt habe ich das Buch flüssig und gerne gelesen und es als gute Metapher für mehr Menschlichkeit - auch in Krisenzeiten - und mehr Familienzusammenhalt - gerade in Westeuropa - empfunden.
Unsere Kinder sind unsere Zukunft und indem wir unseren Kindern Liebe schenken, werden wir die Zukunft freundlicher werden lassen. Das darf nie in Vergessenheit geraten.
Das Buch ist bei Kremayr Scheriau erschienen (ISBN: 978-3-218-01208-9) und kostet 19 Euro.
Autor:Gustav Teschner aus Mönchberg |
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