Buchvorstellung: Kompass ohne Norden von Neal Shusterman
Ein wunderschöner und zugleich tieftrauriger Roman
Obwohl ich weiß, dass Erwartungen oft ursächlich für herbe Enttäuschungen sind, kam ich nicht umhin der Lektüre von Kompass ohne Norden entgegenzufiebern. Zu gut waren die Bücher, die ich bislang von Neal Shusterman gelesen habe und zu vielversprechend klingt auch schon der Klappentext. Als mir dann im Vorwort des Autors auch noch klar wurde, dass das Buch keinesfalls fiktiv ist, sondern den sehr realen Schmerz, die Trauer und die Verzweiflung der Familie Shusterman ausdrückt, war ich bereits gefesselt.
Denn der Protagonist Caden Bosch durchlebt etwas sehr ähnliches wie Shustermans Sohn Brendan. Die Zeichnungen im Buch sind von ihm selbst und die Personen haben ihre Entsprechungen im realen Leben.
Das Thema des Buches ist, wissenschaftlich gesprochen, die Entwicklung der psychischen Krankheiten Schizophrenie, Depression, Paranoia und bipolare Verhaltensstörung des jugendlichen Caden.
Einfühlsamer gesprochen dokumentiert das Buch in sehr besonderer Weise den Weg des jungen Caden in die Abgründe seines Seins. Dafür baut das Buch neben dem realen Handlungsstrang noch einen weiteren auf, nämlich die Fahrt eines Schiffs Richtung Marianengraben. Diese Odyssee ist aber in Cadens Kopf und bezieht sich immer wieder auf die Realität, stellt aber vielmehr seine innere Zerrissenheit, seine Wahnvorstellungen und sein Abdriften dar. In Wirklichkeit entfremdet Caden sich immer mehr von seinen Freunden und seiner Familie, läuft, bis er Blasen an den Füßen hat und ist immer öfter in seinen Gedanken gefangen. Schließlich sehen seine Eltern keine andere Möglichkeit als ihn in die Jugendpsychatrie einzuweisen.
Die zwei sehr unterschiedlichen Handlungen haben mir von Anfang an gut gefallen. Schnell wurde klar, dass die Irrfahrt des Schiffs durchaus ein Abbild Cadens Realität ist und so wurden seine Gedankengänge viel greifbarer. Hier wird kein verrückter Mensch geschildert, vielmehr ist Caden der echten Welt entrückt und versucht immer verzweifelter seine Dämonen zu bezwingen und die Dinge wieder geradezurücken. Die Stimmen, die ihm glauben machen wollen, dass alle Welt ihn umbringen will oder die stete Nervosität machen dieses Unterfangen nahezu unmöglich.
Mit dem Aufenthalt in der Klinik ändert sich für Caden viel. Er findet Gleichgesinnte, durch die er sich selbst in einem anderen Licht sieht und mit denen Verbindungen entstehen, die wertvoll für alle Beteiligten sind.
Der Schreibstil ist shusterman-gewohnt großartig und das Buch lässt sich sehr flüssig lesen. Die wirklich kurzen Kapitel ermöglichen einen regen Wechsel zwischen Realität und „Cadens Realität“, also dem Schiff. Die insgesamt weit über 100 Einzelkapitel bringen einen Tagebuchcharakter ins Spiel, der dem Verlauf von Cadens Krankheit Rechnung trägt. Cadens Gedankengänge sind auf traurige Weise schön und zeugen von einem wahnsinnig intelligenten Geist.
Ein besonderes Lob gilt den tollen, bildhaften Beschreibungen, die Unwissenden Einblicke geben in die Gefühlswelt eines psychisch kranken Jugendlichen. Die auf ewig lauernde Abgrundschlange (für die potenziell immer wiederkehrende Krankheit), die flüchtenden Gehirne (für den gedanklichen Unrat) und der launische Kapitän (für den wankelmütigen Dr. Poirot) sind nur einige Beispiele für diese gelungenen Analogien.
Für mich ist das Buch ein absolutes Highlight und wurde zu Recht mit zahlreichen Preisen, darunter dem Deutschen Jugendliteraturpreis, ausgezeichnet. Ähnlich wie Wunder von Raquel Palacio nimmt das Buch einen mit auf eine abenteuerliche Reise und hinterlässt Spuren, die einen nachdenklich stimmen. Dieses sehr persönliche Buch von Shusterman strahlt bis hinab in die Tiefen des Challenger-Tiefs und entfacht ein Feuerwerk der Gefühle!
Das Buch ist im dtv-Verlag erschienen und kostet 9,95 Euro (ISBN: 978-3-423-62719-1).
Autor:Gustav Teschner aus Mönchberg |
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