Marion Tauschwitz zu Gast an der HWS
Lesung über das Leben der jungen jüdischen Dichterin Selma Merbaum zum 100. Geburtstag

Gedichte sind Teil des Lehrplanes im Fach Deutsch der Oberstufe des Gymnasiums, sie sind also ein Muss für jeden/jede Schüler*in und erscheinen auch in den Abiturprüfungen als eine Aufgabe, die die Schüler*innen zur Bearbeitung wählen können.
Vielfach begegnen die jungen Menschen diesem Genre mit einer gewissen Skepsis: Gedichte seien unverständlich, romantisierend, nicht wirklichkeitsnah und überhaupt „verstaubt“.
Doch dass Lyrik durchaus fesselnd und auch im 21. Jahrhundert noch bedeutsam sein kann, wurde anlässlich der Lesung von Marion Tauschwitz, die sich vor allem als Biografin der bedeutenden Heidelberger Lyrikerin Hilde Domin einen Namen in der Fachwelt gemacht hat, deutlich.
Die Autorin begann ihren Vortrag vor der Jahrgangstufe 1 und 2 des sozialwissenschaftlichen Gymnasiums der Helene Weber Schule mit der Aussage: „Ich bin heute hier, um Sie zu unterhalten.“ Diese Ankündigung entlockte vielen Schülern*innen ein Lächeln.
Die Frage, ob die Schüler*innen Gedichte schreiben würden, wurde von den Anwesenden verneint. Auch einen Rapp hätten sie noch nicht verfasst. Tauschwitz beglückwünschte sie dazu, denn solche Ausdrucksformen entstünden vor allem dann, wenn es einem sehr schlecht gehe.
Die Schriftstellerin betonte, dass es ihr nicht darum gehe, einen trockenen Vortrag zu halten, sondern das Leben von Selma Merbaum in Form einer Erzählung nahezubringen.
So berichtete sie, dass es für die Existenz Selmas zunächst nur einen einzigen Nachweis gab, denn in dem Zwangsarbeitslager, in dem die junge Frau mit 18 Jahren 1942 an Flecktyphus starb, war eigentlich alles auf Vergessen ausgelegt, wie Tauschwitz betonte. „Verniemandung“ ist der Begriff, den die Vortragende verwendet, um deutlich zu machen, dass es Ziel war, dass Menschen ohne Identität zurückbleiben sollten, ohne Spuren für die Nachwelt zu hinterlassen.
Ausgehend von dem Todesdatum Selmas, das ein Mithäftling notierte, und einem kleinen Poesiealbum, in das die junge Frau Gedichte notiert hatte, begann die detektivische Kleinarbeit der Biografin, deren Verbundenheit mit der dahin unbekannten jungen Lyrikerin deutlich wird. Reisen in die Ukraine, in die Bukowina, nach Czernowitz, wo Merbaum ihre Kindheit und Jugend verbrachte, nach England und in die USA, wo Archivmaterial und Dokumente gesichtet und ausgewertet wurden, sowie Gespräche mit ausfindig gemachten Zeitzeugen, die Selmas Lebensweg begleitet hatten, ergaben den Stoff für das 2014 veröffentlichte Buch.
Selma Merbaum gehörte zur jüdischen gebildeten Elite, die Deutsch sprach und auch ihre Gedichte in dieser Sprache verfasste, denn die Bukowina war vor dem Ersten Weltkrieg Teil der österreichischen Doppelmonarchie. Als das Gebiet rumänisch wurde, wird die deutsche Sprache verboten, Orientierungs- und Identitätslosigkeit prägten die Jugendlichen und waren die Folge dieser Restriktionen. So wurde der Wald ihr Refugium, wo sie sich trafen, um unbeobachtet von rumänischer Bespitzelung Deutsch sprechen zu können. Freiheit wurde ihre Losung.
1940 änderte sich Merbaums Umfeld erneut: Die Sowjetunion marschierte in die Bukowina ein und fortan ist Russisch die Sprache, die die Bevölkerung sprechen muss. Die Besatzer veranstalteten unter der jüdischen Bevölkerung ein Massaker, das als „Blutjuli 1941“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. In dieser Zeit entstand auch Merbaums Gedicht „Poem“, welches Selmas unbändigen Willen weiterzuleben zeigt. Tauschwitz gelingt es in eindrücklicher Weise, diesem Wunsch beim Vortrag des Gedichtes Ausdruck zu verleihen: „Ich will nicht sterben. Nein: Nein.“
Am 28. Juni 1942 wurde Selma Merbaum zusammen mit ca. 15.000 anderen Menschen in Viehwaggons getrieben und ins Zwangsarbeitslager Michailowka in der Ukraine gebracht.
Dort muss sie mit bloßen Händen Steine zerkleinern, die für den Straßenbau verwendet wurden. Immer wieder scharte Selma die Kinder des Lagers um sich, erklärte ihnen die Natur, um sie von den Gräueltaten um sie herum abzulenken.
Die erste Typhuswelle im Lager überstand Selma, gegen die zweite schützte sie auch ihre Weigerung zu sterben nicht. Am 16. Dezember 1942 endete ihr Leben.
Tauschwitz gelang es in beeindruckender Weise durch Erzählungen und durch das Vorlesen der Gedichte, Selma Merbaum vor den Augen der Zuhörer „lebendig“ werden zu lassen. Sie zeigte sie als eine junge, politisch interessierte Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nahm, indem sie mit 15 Jahren das Elternhaus verließ und zur Großmutter zog, und die in Worten eine Zuflucht vor der sie umgebenden grausamen Wirklichkeit fand.
Und das war auch die Botschaft, die Tauschwitz den Schülern*innen mitgab: Worte können in schwierigen Situationen Zuflucht und Hilfe sein.
Und damit endete die Lesung, die trotz des ernsten Themas auch immer wieder mit unterhaltsamen Elementen zum Schmunzeln reizte, wenn Tauschwitz beispielsweise von einem unterbezahlten Geschichtsprofessor erzählte, der sich mit Grabarbeiten seinen Lebensunterhalt aufbesserte und sich auch nicht scheute, für die Unterstützung der Autorin bei der Recherche auf einem Friedhof in Czernowitz Geld einzufordern.
Abschließend war noch Gelegenheit, Fragen an Marion Tauschwitz zu richten. Dabei interessierte die Schüler*innen beispielsweise, wie sie auf Selma gestoßen sei oder wie es zu dem Kontakt mit Hilde Domin gekommen sei. Aber auch pragmatische Fragen wurden gestellt, die den Alltag einer Schriftstellerin betrafen: Wie lange dauert es, bis solch ein Buch geschrieben ist?
Sichtlich beeindruckt bedankten sich Schüler*innen, die anwesenden Lehrer und Schulleiter Christof Kieser bei Marion Tauschwitz, die schon mehrfach zu Gast an der Helene Weber Schule gewesen ist und sicher nicht das letzte Mal dort eine Lesung gehalten hat.

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